Initiative Wertvolle Wand: Wie wir durch gezielte Ablehnung im Planungs- und Bauprozess zu mehr Wertebewusstsein gelangen können.
DATA & FACTS
EXKURS-03.06.2024
Round Table „Refuse“

Teilnehmende

  • Kathrin Albrecht, Ingenieurin und Nachhaltigkeitsmanagerin
  • Anna Lina Bartl, Ernährungs- und Agrarwissenschaftlerin, Gründerin von Mulembe Kaffee
  • Prof. Dr. Christoph Grafe, Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie, Uni Wuppertal
  • Carlo Sporkmann, Wirtschaftsredakteur
  • Christian Poprawa, Direktor Marketing Saint-Gobain Weber
  • Peter Theissing, Geschäftsführer KS-Original
  • Dr. Tania Ost, Moderation

 

Eine Veranstaltung der Initiative Wertvolle Wand

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Zweiter Round Table der Initiative „Wertvolle Wand“

Refuse: „Nein“ sagen für die Bauwende

Beim zweiten Round Table der von Saint-Gobain Weber und KS-Original ins Leben gerufenen Initiative „Wertvolle Wand“ diskutierten die Teilnehmenden, wie wir durch bewusstere Entscheidungen und gezielte Ablehnung im Planungs- und Bauprozess zu mehr Wertebewusstsein gelangen können.

Ziel im Bauwesen, da war sich die Expert*innenrunde einig, sollte es sein, Ökonomie, Ökologie, Soziales sowie Ästhetik und Kultur in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. Ein Weg führe dabei über nutzerorientierte Architektur, also Städte und Gebäude, die unterschiedliche Lebens-, Wohn- und Arbeitsformen einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Um dies zu erreichen, so der Einwurf von Anna Lina Bartl, sei aber auch eine stärkere Fokussierung auf das interdisziplinäre Arbeiten notwendig, ohne das ganzheitlichere Lösungen nicht entwickelt werden könnten. Als Beispiele nannte die Agrar- und Ernährungswissenschaftlerin die gleichzeitige Nutzung von Gebäudeflächen für die Nahrungsmittelproduktion und die Weiterverwendung von landwirtschaftlichen Reststoffen als Baumaterial.

Die Ernährungs- und Agrarwissenschaftlerin Anna Lina Bartl forderte, dass das Bauwesen viel öfter die globale Perspektive in die Überlegungen einbeziehen und sich von deren Lösungsansätzen inspirieren lassen sollte.
Die Ernährungs- und Agrarwissenschaftlerin Anna Lina Bartl forderte, dass das Bauwesen viel öfter die globale Perspektive in die Überlegungen einbeziehen und sich von deren Lösungsansätzen inspirieren lassen sollte.

Bestehendes weiterbauen

Den immer komplexeren Anforderungen und so manchem Optimierungswahn am Gebäudebestand standen die Anwesenden kritisch gegenüber, hätten die Sanierungen und Umbauten teilweise doch zum Verlust historischer Gebäude bis hin zu ganzen Quartieren geführt. Zudem hätten traditionelle und bewährte Bautechniken sowie handwerkliche Fertigkeiten in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren.

„Durch eine Rückbesinnung auf lokale Bautypologien und bewährte Bauweisen sowie die Förderung des heimischen Handwerks erhalten wir die baukulturelle und ästhetische Vielfalt und wirken einem Qualitätsverlust entgegen“, befürwortete Christian Poprawa. Peter Theissing ergänzte: „Hinzu kommt, dass die regionale Materialbeschaffung einen wichtigen Beitrag leistet, die Umweltbelastung zu reduzieren, da kurze Transportwege entstehen.“

Für Carlo Sporkman stand fest: „Wir brauchen dringend ein Umdenken in den Köpfen. Etwas Altes, das modernisiert wird, sollte als genauso wertvoll betrachtet werden wie etwas Neues.“ Ein solches Umdenken in der Bevölkerung könne dazu beitragen, dass der Bestand als wertvolle Ressource wahrgenommen und damit anders bewertet und gepflegt würde, pflichtete Kathrin Albrecht bei.

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Eine rein ökonomische Betrachtungsweise beim Bauen und Sanieren ist für den Wirtschaftsredakteur Carlo Sporkmann abzulehnen.

Kombinieren statt konzentrieren

Da sich das technologische Spielfeld inzwischen geändert habe, sollten auch Konstruktionen und Baustoffe, die bisher klar getrennt betrachtet wurden, gegebenenfalls miteinander kombiniert werden. „Wir dürfen uns nicht nur auf die eine Bauweise oder das eine Material konzentrieren. Stattdessen brauchen wir ein sinnvolles Nebeneinander verschiedener Wege“, warf Christian Poprawa ein. Eine Lösung für das Weiterbauen und auch für das Neubauen könne sein, über die Konstruktion zu neuen Konzepten zu kommen, ergänzte Prof. Dr. Christoph Grafe.

Für die Teilnehmenden bedeutete dies ein „Ja“ zu mehr Materialoffenheit und zum experimentellen Bauen. Unterstützen könnte dabei auch ein intensiver Austausch und Wissenstransfer zwischen Bauindustrie und Architekturschaffenden, um Bauprodukte und -techniken weiterzuentwickeln. „Gerade im Hinblick auf Rückbaubarkeit und Wiederverwendung könnten wir so gemeinsam den Weg zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft ebnen“, so Peter Theissing.

Prof. Dr. Christoph Grafe

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Grundsätzlich sollte das Weiterbauen von Bestehendem an die Stelle von voreiligem Abriss und Neubau treten. Wenn es wahr ist, dass in einer endlichen Welt ein ‚Weiter so‘ schlicht unmöglich ist, dann ist die Weigerung ein erster Schritt zur Umkehr: zum Denken und Bauen aus dem, was schon da ist, zum inspirierten, pragmatischen, kreativen Weiterbauen.

Prof. Dr. Christoph Grafe über die Zukunft der Materialwahl

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Mehr Entscheidungsfreiheit, weniger Regeln

Unzählige Normen und gesetzliche Regelungen legen zukunftsweisenden Ideen noch vor Planungsstart Steine in den Weg. Verschiedenste Initiativen und Verbände innerhalb als auch außerhalb der Baubranche fordern deshalb eine Deregulierung und die Schaffung innovationsfördernder Rahmenbedingungen – vor allem auf politischer und gesetzlicher Ebene. Dieser Forderung schloss sich auch die Teilnehmerrunde des Round Tables an.

Aufgrund komplizierter Genehmigungsverfahren sowie der unbedingten Vermeidung von Unsicherheiten und Risiken würden Privatpersonen als auch Unternehmen, die zukunftsfähig agieren wollen, nahezu gelähmt, waren sich die Expert*innen einig. Gleichzeitig sollten auch Mitarbeitende in Genehmigungsbehörden ermutigt werden, mehr Entscheidungsfreiheit und Verantwortung für ihre Region zu übernehmen. „Dazu bedarf es aber auch einer breiten gesellschaftlichen Debatte, denn gesetzliche Änderungen und mehr Freiheiten erfordern den Aufbau einer gewissen Vertrauenskultur sowie einen entsprechenden Umgang der Bürgerinnen und Bürger miteinander“, fügte Prof. Dr. Christoph Grafe hinzu. Eine offene Fehlerkultur würde in diesem Zusammenhang ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.

Generell stünden Aufwand, Kosten und Nutzen bei Bauprojekten aller Art aufgrund der bürokratischen Hürden derzeit in keinem ausgewogenen Verhältnis. Gleiches gelte in Bezug auf Zertifizierungen im Bauwesen. Diese seien zwar zunächst ein attraktiver Anreiz und garantierten eine Qualitätskontrolle auf Seiten der Bauherrschaft. Allerdings plädierten die Teilnehmenden auch hier für ein gesundes Gleichgewicht zwischen Aufwand und Nutzen und das kritische Hinterfragen einzelner Zertifizierungen.

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Architekturkommunikatorin Kathrin Albrecht zitierte aus dem Architects Declare Practise Guide, dass Architekturschaffende in ihrem beruflichen Handeln einen 196-mal größeren Hebel haben, CO2 Emissionen zu reduzieren, als wenn sie ihren eigenen Lebensstil ändern würden.

„Nein“ sagen schafft Raum für Neues

Zum Abschluss stand für die Anwesenden fest: Ein „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist nicht mehr zu akzeptieren. Aus einer ablehnenden Haltung, also einem klaren „Nein“ zu etwas, erwachse im Umkehrschluss immer ein „Ja“. Für die Expert*innenrunde bedeutete dies ein klares „Ja“ zum Umdenken, zu mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit sowie zu mehr Mut, um Herausforderungen, seien sie auch mit Unsicherheiten verbunden, anzunehmen.

Eine differenzierte, aber zugleich gesamtgesellschaftliche Betrachtung ist für eine erfolgreiche Bauwende notwendig. Das bedeutet, miteinander ins Gespräch zu kommen und mehr Gemeinsamkeit zu wagen – durch Kommunikation, Vermittlung und Diskurs, wie es auch die Initiative „Wertvolle Wand“ macht. Wir alle müssen verstehen, welche Rolle Architektur in unserem Leben spielt, denn letztendlich betrifft Architektur die gesamte Gesellschaft.

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Von links nach rechts: Christian Poprawa, Carlo Sporkmann, Anna Lina Bartl, Kathrin Albrecht, Prof. Dr. Christoph Grafe, Dr. Tania Ost und Peter Theissing.