Christoph Grafe ist Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität Wuppertal. Neben seiner Lehrtätigkeit hat er unter anderem zahlreiche Publikationen veröffentlicht und ist als Juror in Architekturwettbewerben tätig.
Lehrstuhl für Architektur Geschichte Theorie, Bergische Universität Wuppertal
Prof. Christoph Grafe über Umbaukultur
Zum Erhalt des kulturellen Gedächtnisses plädiert der Architekt und Autor für einen intelligenten und kreativen Umgang mit dem Gebäudebestand und eine neue Umbaukultur.
Herr Prof. Grafe, wie sind Sie zur Architekturgeschichte/-theorie gekommen?
Ich bin genauso zur Architekturtheorie gekommen wie so viele Architekturtheoretiker – ich bin Architekt. Über meine Promotion und meine Lehrtätigkeit wurde ich zum Architekturtheoretiker. Ich sehe mich heute an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis: Ich habe mir die Methoden eines Historikers zu eigen gemacht, wende sie aber aus der Perspektive eines Architekten an.
Zusammen mit Tim Rieniets vom Verein Baukultur NRW haben Sie das Buch „Umbaukultur – für eine Architektur des Veränderns“ publiziert. Was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse?
Neu Bauen muss in Zukunft sehr kritisch gesehen werden. Damit meine ich nicht, dass wir gar nicht mehr neu bauen sollten. Jedoch haben wir in Europa einen unglaublichen Gebäudevorrat bei vergleichsweise wenig abbaubaren Rohstoffen. Unser Rohstoff ist demnach das, was an Gebäuden bereits vorhanden ist. Dies ist ein enormes Potenzial, wohingegen Neubauten eine große Menge an Rohstoffen, Energie und finanziellen Mitteln verbrauchen.
Der Bestand, ob bekannte Monumente oder die alltägliche Architektur, sie alle haben außerdem ein kulturelles Gedächtnis. Ein intelligenter und kreativer Umgang mit dem bereits Existierenden kann daher auch Freiräume schaffen, die bei einem Neubau aufgrund von Konventionen und gesetzlichen Regelungen gar nicht gegeben sind.
Sie plädieren für ein einfühlsames Weiterbauen des Bestehenden. Welche Rolle spielt die Symbiose hierbei?
Symbiose ist ja vor allem eine Metapher, die im Architektensprech gerne verwendet wird. Sie äußert sich jedoch auf verschiedene Weisen. Ich denke hier einerseits an die Glasfuge, die ganz klar markiert, wo Alt und Neu aufeinandertreffen. Andererseits gibt es Gebäude, in denen diese Grenzen verwischt werden, manchmal sogar vollständig. Auch das lässt sich als Symbiose bezeichnen. Gute und qualitätsvolle Architektur entsteht dann, wenn das Bestehende und das Neue in einen poetischen Dialog miteinander treten und dies intuitiv passiert. Diese intuitiven Entscheidungen trifft jeder Mensch regelmäßig in seinem Alltag. So nutzen wir zum Beispiel einen Hammer – ein Werkzeug aus der Eisenzeit – und gleichzeitig einen elektrischen Bohrer, der aus dem 20. Jahrhundert stammt. Diese Verwendung von Alt und Neu passiert ganz selbstverständlich.
Dorte Mandrup beispielsweise verknüpft beim Wattenmeer-Zentrum in Ribe die Tradition mit zeitgenössischer Architektur. Wie gefällt Ihnen dieser Ansatz?
Hier sprechen wir wieder über den Hammer und den elektrischen Bohrer – oder, noch aktueller, über den Laser. Das Reetdach, das die Küsten von Friesland bis hoch nach Dänemark prägt, ist ganz nah am Hammer. Dorte Mandrup, die sehr künstlerisch-formal und bildhaft arbeitet, nutzt es beim Wattenmeer-Zentrum in Ribe, um dem Gebäude eine Tiefe zu verleihen, durch die es mit dem Ort verwurzelt wird. Ich würde ihr Vorgehen daher nicht nur als Symbiose, sondern auch als Ausdruck einer kulturellen Haltung bezeichnen, die ich „dynamische Kontinuität“ nenne. Denn bei aller Veränderung in dieser Welt ist es auch wichtig, an Dingen festzuhalten, um sich selber zu verorten. Dafür ist dieses Projekt ein faszinierendes Beispiel.
Die Symbiose aus Alt und Neu begegnet uns in der Architektur immer wieder. Wie sieht dieses Zusammenspiel Ihrer Meinung nach in Zukunft aus?
Ich denke, dass in vielen Bereichen unseres Lebens das Reparieren immer wichtiger werden wird, auch was die gebaute Umgebung betrifft. Die Entscheidung für eine Reparatur, einen Umbau, ist zum einen natürlich eine pragmatisch-ökonomische Entscheidung, denn das, was ich bereits habe, brauche ich nicht zu bezahlen. Zum anderen bringt sie aber auch eine große gestalterische Freiheit mit sich, über die wir den Gebäuden einen persönlichen Ausdruck verleihen können.
Umbaukultur – für eine Architektur des Veränderns
Umbauen, Anpassen, Wiederverwenden – diese Formen von Architektur sind so alt wie die Architektur selbst. Die Publikation rückt die architektonischen und ökologischen Potenziale des Umbauens in den Fokus.
© Buchcover „Umbaukultur – für eine Architektur des Veränderns“ Design: konter – Studio für Gestaltung, Kettler Verlag, Dortmund 2020