DATA & FACTS
KÖPFE-01.10.2013
Zur Person

Pinar Gönül ist Mitbegründerin von blgp architekten im schweizerischen Hochdorf. Als Forschungsassistentin am Lehrstuhl Prof. Annette Spiro der ETH Zürich ist sie Mitherausgeberin des Fachbuches »Über Putz – Oberflächen entwickeln und realisieren«.

BLGP ARCHITEKTEN AG
Neustadtstrasse 7
6003 Luzern/Schweiz

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Leidenschaft für Putz

Pinar Gönül über die Eigenschaften von Putzfassaden

Die Mitherausgeberin des Fachbuches „Über Putz – Oberflächen entwickeln und realisieren“, klärt über die aktuellen Trends auf.

Sie sind Mitherausgeberin eines Fachbuches über Putz. Was macht für Sie die Faszination des Materials aus?

»Putz« ist kein Material im Sinne eines Rohstoffs, der in gebrauchsfertiger Form abgebaut oder gewonnen werden kann. Er ist ein Baustoff, der sich aus verschiedenen Bindemitteln, Zuschlägen und Zusätzen zusammensetzt. Die Besonderheit, den Mörtel mit verschiedenen natürlichen Rohstoffen anzumachen und ihn handwerklich zu bearbeiten, hat daher zu einer einzigartigen Vielfalt geführt. Putz lässt gleichermaßen kubische Volumen wie organisch gekrümmte, kontinuierliche Oberflächen hervortreten. Fast jede Anwendung ist möglich. Dennoch bestimmt die präzise und kontrollierte Rezeptur seine Eigenschaften. Der Einsatz von Putz erfordert daher in jedem Fall eine tiefe Auseinandersetzung mit der Rezeptur und der Oberfläche. Unter ihr liegt eine schier unendliche Vielfalt an verschiedenen Strukturen verborgen – genau das fasziniert mich.

Der Titel des Webkongresses lautet »Oberflächlich?«. Beschäftigen sich Architekten zu wenig mit Putzfassaden?

Putz ist unter den Architekten nicht gut beleumundet und wird heute meistens mit Wärmedämmsystemen und ihren »ausgedünnten« Putzoberflächen in Verbindung gebracht. Obwohl er allgegenwärtig ist, wissen wir Architekten wenig über diesen Baustoff. Die meisten werden mit dem Thema erst in der Praxis konfrontiert, denn Putzfassaden spielen in der heutigen Architekturausbildung kaum eine Rolle. Mit der Mechanisierung und Ökonomisierung auf den Baustellen ist außerdem viel Wissen verloren gegangen. In der Folge greift der Architekt oftmals zu industriellen Standardsystemen. So werden die vielfältigen Möglichkeiten der Oberflächengestaltung nicht ausgeschöpft – viele alte Putztechniken geraten dabei in Vergessenheit.

Wenn man heute über Fassaden spricht, dann geht es vielfach um Anforderungen wie Wärmeschutz oder Nachhaltigkeit. Ist der klassische Putz dem überhaupt noch gewachsen?

Natürlich, denn dem heute üblichen Wärmedämm-Verbundsystem würde ich jegliche Form von Nachhaltigkeit absprechen. Es zeichnet sich jedoch ein Trend weg vom Dämmwahn hin zum Interesse am Putz wie auch an der Oberflächengestaltung verputzter Außenwärmedämmungen ab. Ich sehe hier sehr großes Potenzial bei historischen Putzen. Dabei kommt der Entwicklung von hydroaktiven Dickbettsystemen eine wesentliche und nachhaltige Bedeutung zu. Sie sind ein Beispiel dafür, wie der natürliche Wasserhaushalt des Materials genutzt werden kann, um der üblichen systembedingten Veralgung von verputzten Außenwärmedämmungen entgegenzuwirken.

Welche Trends zeichnen sich bei Putzfassaden ab?

Neben der Anwendung der Nanotechnologie und der Forschung an »Phase Changing Materials« (PCM) zur Regulierung des Innenraumklimas entwickelt die Dämmstoffindustrie Innovationen aus anderen Technikbereichen weiter. In einer anderen Richtung setzt das Forschungsprojekt der Münchener Architekten Hild und K gemeinsam mit Partnern aus der Industrie an. Unter anderem geht es darum, durch eine dreidimensionale Modulation der Dämmschicht die Fassadengestaltung zu individualisieren. Und schließlich weisen alte Putze und Putztechniken durchaus Innovationspotenzial auf. Es gilt, diese große gestalterische und technische Vielfalt neu zu entdecken und einzusetzen.

Hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Material Putz Ihre eigenen Architekturprojekte beeinflusst?

In jedem Fall. Unser Büro hat zeitgleich ein Projekt in Hochdorf (Schweiz) realisiert, bei dem wir uns für ein Einsteinmauerwerk mit einem Wormserputz entschieden haben. Bei einer späteren Wohnhaussanierung mussten wir aus Kostengründen ein verputztes WDVS wählen, jedoch mit einem Edelputz.

Welche Tipps geben Sie Kollegen, die eine Putzoberfläche jenseits der Systemlösungen der Hersteller entwickeln möchten?

Ich würde jedem unsere Publikation »Über Putz« empfehlen. Spätestens dann sollte die Experimentierlust des Architekten angestachelt werden. Der Architekt soll selber Hand anlegen, einen Putzmörtel anmachen und damit experimentieren. Weiter sollten die Kollegen eine engere Zusammenarbeit mit dem Handwerker suchen. Sein Wissen bleibt dem Architekten meistens verborgen, kann für diese Experimente aber von großem Nutzen sein.