Das Erbe von Bruno Taut: 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin
Mitte der 1920er-Jahre galt die junge Großstadt Berlin nicht nur als Europas größter Industriestandort, sondern auch als Experimentierfeld des Wohnungsbaus. Einer der prominentesten Vertreter war Bruno Taut, dessen Werk allein in Berlin über 10.000 Wohnungen umfasste, die bis heute nichts an Wohnqualität verloren haben.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts lebten viele Menschen in äußerst beengten und stickigen Gebäuden, den sogenannten „Mietskasernen“. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, ansteckende Krankheiten verbreiteten sich rasant. Dementsprechend wurde der Bau neuer, großflächiger Wohnquartiere unausweichlich. Mit dem Zusammenschluss von acht Städten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken im Jahr 1920 zu Groß-Berlin vergrößerte sich das Stadtgebiet um das Dreizehnfache. Dies brachte neben mehreren Stadtzentren mit eigener Infrastruktur auch eine Menge als Bauland geeigneter Flächen mit sich – die Weichen waren gestellt.
Licht, Luft und Sonne
Eine Antwort auf die düsteren Wohnverhältnisse war die 1931 fertiggestellte Hufeisensiedlung im Arbeiterbezirk Berlin-Britz von Bruno Taut und dem späteren Stadtbaurat Martin Wagner. Ihr Name geht auf den 350 Meter langen Zeilenbau zurück, der wie ein Hufeisen gebogen ist. Als Herzstück der Siedlung ist er gemeinsam mit der Freiflächengestaltung die fast schon theatralische Inszenierung der Vision von Taut und Wagner: Geht die Sonne auf, scheint sie direkt in das Hufeisen hinein. Eine Freitreppe führt zu Grünflächen und Teich, in dessen Oberfläche sich die umgebenden Bauten spiegeln – eine Analogie zur Weite und Offenheit, die die Mietskasernen vermissen ließen. Anstatt auf maximale Dichte setzten Taut und Wagner auf großzügige Freiflächen. Jedem Einfamilienhaus wurde ein Garten mit mindestens einem Obstbaum zuteil, jeder Wohnung ein Balkon oder eine Loggia mit Blick ins Grüne. Waren die vergangenen Jahre durch Dunkelheit und Enge geprägt, läutete man hiermit eine neue Bewegung ein. „Licht, Luft und Sonne“ lautete das Motto, nach dem bezahlbarer, gesunder und lebenswerter Wohnraum geschaffen wurde – mit Erfolg: Bis heute ist beim Spaziergang durch die Siedlung schnell vergessen, dass es sich um Wohnungsbau in Serie mit nahezu 2000 Wohneinheiten handelt. Trotz der langen Zeilenbauten verstand sich Taut darauf, nicht in Monotonie zu verfallen, die gegenwärtig immer wieder ein Kritikpunkt bei der Schaffung von seriellem Wohnungsbau ist. Allein bei den 679 Einfamilienhäusern lassen sich bei genauerem Hinsehen 285 Subtypen voneinander unterscheiden. Das liegt vor allem an dem differenzierten Einsatz von kräftigen Farben, die sich von den Putzfassaden über die Fensterrahmen bis zu den Haustüren ziehen. Ein einfaches Mittel also, um den Gebäuden ohne nennenswerte Mehrkosten ein Gesicht und Individualität zu verleihen.
Lebensqualität trotz Dichte
Zwar sind die Wohnstandards heute höher, der Mangel an Wohnungen jedoch wieder akut. Laut einer Rechnung des Bündnisses „Soziales Wohnen“ fehlen in Deutschland aktuell 700.000 Wohnungen – ein Rekorddefizit in Bezug auf die letzten 20 Jahre. Anstatt auf der grünen Wiese neu zu bauen, legt die aktuelle Architekturdebatte ihren Fokus auf die innerstädtische Nachverdichtung durch Lückenschlüsse, Umnutzung leer stehender Gebäude oder Aufstockung. Mag dies mit der Idee Tauts von aufgelockerter Bebauung mit großzügigen Freiflächen zunächst nicht vereinbar klingen, beweist seine Wohnstadt Carl Legien das Gegenteil: Von allen sechs Welterbe-Siedlungen Berlins ist sie mit ihrer Lage nicht weit vom Alexanderplatz die zentralste, was den Baugrund zusätzlich verteuerte. Um die knapp 1150 Wohnungen auf 8,4 Hektar – im Falle der Hufeisensiedlung waren es großzügige 37 Hektar – unterzubringen, baute Taut anstelle der typischen drei Geschosse noch ein bis zwei höher, verzichtete auf Mietergärten und entwarf kleinere Grundrisse. Eine Dichte also, die nicht weit entfernt von der der Mietskasernen war. Allerdings brach der Architekt mit zwei Prinzipien radikal: Einerseits baute er nicht unmittelbar am Blockrand, sondern ließ auch hier wieder Platz für Grünflächen. Andererseits richtete er alle Wohnungen zum grünen Innenhof aus und wies jeder eine Loggia zu, die sich im Sommer als „Außenwohnraum“ nutzen ließ. Um trotz der hohen Bewohner*innenzahl für gute hygienische Verhältnisse und ein nachbarschaftliches Gefühl zu sorgen, ordnete Taut in zwei der sechs Innenhöfe Wäschereigebäude an, in denen die Bewohner*innen ihre Wäsche waschen konnten. Zudem waren hier auch ein Kindergarten sowie eine Leihbücherei untergebracht.
Zurück zu den Wurzeln
Ein ähnlicher Nutzungsmix ist auch bei der heute denkmalgeschützten Siedlung Attilahöhe in Berlin-Tempelhof zu finden, die Taut in den Jahren 1928 bis 1930 gemeinsam mit Franz Hoffmann errichtete. Ein Baublock der Siedlung fällt durch seine rautenförmige Form auf, mit grünem, öffentlich zugänglichem Innenhof wird er von einem viergeschossigen Kopfbau dominiert. Wie auch bei der Carl-Legien-Siedlung waren darin Wasch- und Heizhaus sowie ein Kindergarten untergebracht. Um die Funktion des gemeinschaftlich genutzten Gebäudes zu verstärken, erhielt es eine roséfarbene Putzfassade, die durch großzügige Stahl-Glas-Konstruktionen geöffnet wird. Ab 2019 wurde die stark verfallene Gebäudehülle vom Berliner Büro Blumers Architekten aufwändig und mit viel Liebe zum Detail instand gesetzt. Der bauzeitliche Farbton sowie die Struktur der inzwischen beigefarbenen Putzfassade wurden auf Basis von Materialanalysen und den Vorgaben des Denkmalschutzes wiederhergestellt. Heute ist das Bauwerk von Bruno Taut wieder als solches erkennbar und wird – wie auch die anderen, sehr begehrten Siedlungen – für seine hohe Wohnqualität geschätzt.