Reparieren als Entwurfskultur
Der Earth Overshoot Day markiert jährlich den Tag, an dem die Menschheit die natürlichen Ressourcen, die die Erde in einem Jahr erneuern kann, verbraucht hat. Während er in diesem Jahr weltweit auf Ende Juli fiel, hatte Deutschland seine nachwachsenden Naturgüter bereits Anfang Mai verbraucht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die unbequeme Frage: Warum vernichten wir noch immer Bestehendes, um es durch Neues zu ersetzen?
Abriss gilt vielerorts als einfachste Lösung, als schneller Weg zur „optimalen“ Architektur – und oft auch als ästhetische Befreiung. Reparatur dagegen wirkt auf den ersten Blick sperrig: Sie verlangt Rücksichtnahme auf den Bestand, Flexibilität und Ideenreichtum, Entwurfskompetenz im Detail, Materialkenntnis, handwerkliche Sorgfalt und den Mut, Unvollkommenheit sichtbar zu lassen. Doch gerade darin liegt ihre Stärke: Reparatur denkt Architektur nicht als endgültiges, makelloses Objekt, sondern als Teil eines fortlaufenden Prozesses und gesellschaftlichen Wandels. Sie ist weder nostalgische Rekonstruktion noch museale Konservierung, sondern eine kreative Weiterentwicklung dessen, was bereits da ist.

In gleichem Maße wertvoll
Einen experimentellen Ansatz wählte das dänische Büro pihlmann architects beim „House 14a“ in Kopenhagen. Das Einfamilienhaus wurde 1951 im Stil der dänischen Nachkriegsarchitektur errichtet. Als zweistöckiges Gebäude mit gleichmäßig verteilten Fenstern, roter Backsteinfassade und Satteldach war das Bauwerk zwar robust, in seiner Strenge jedoch wenig anpassungsfähig an heutige Lebens- und Arbeitsweisen. Um das zu ändern, sollte eine Neuorganisation der bestehenden Struktur her. Statt eine „fertige“ Lösung zu planen, ließen die Architekturschaffenden sich von dem Vorgefundenen inspirieren und bearbeiteten das Haus direkt vor Ort. Traditionelle Techniken wie Freilegen, Verkleiden, Schneiden, Fügen, Stapeln und Gießen kamen hierfür zum Einsatz.
Die räumliche Grundordnung im Inneren wurde fast komplett aufgelöst. Drei Mauerwerkskerne –Treppenhaus, Abstellraum und Leitungsschacht – definieren nun den offenen Wohn-, Ess-, Schlaf- und Bibliotheksbereich. Fehlstellen im Fischgrätparkett wurden durch Sperrholzplatten ergänzt, und abgebrochenes Material kam in veränderter Form erneut zum Einsatz. So zieren beispielsweise zerkleinerte Mauersteine den neuen Terrazzoboden in der Küche.
Jedem Element, ob alt oder neu, wird gleichermaßen Wertschätzung entgegengebracht. Entstanden ist eine bleibend unvollendete Collage verschiedener Zeitschichten, die nicht auf Rekonstruktion und Vollendung, sondern auf Reparatur und Weiterentwicklung zielt und so Raum für kontinuierliche Transformation schafft

Spannung oder Symbiose?
Eine beträchtliche Transformation durchlebte auch das Wohnhaus in Radebeul bei Dresden, erbaut um 1900. Pläne aus der Zeit geben einen groben Eindruck, wie das ursprüngliche Gebäude ausgesehen haben könnte: mit großen Dachüberständen, ornamentalen Verzierungen und einer charakteristischen Loggia. Als das Leipziger Architekturbüro Summacumfemmer sich des Gebäudes 2019 annahm, war wenig davon übrig. Angelehnt an seinen Originalzustand, jedoch nicht rekonstruktiv gedacht, entschieden sich die Architekt*innen, dem Bauwerk neues Leben einzuhauchen und ihm seinen ursprünglich schmuckvollen Charakter wiederzugeben.
Fenster wurden gespiegelt, Erkerfenster verdoppelt und neue Dachüberstände krönen nun wieder die historischen Mauern. Dass die Planenden gerne mit Formen experimentieren, zeigt sich zum Beispiel über dem Eingang: Das Satteldach wurde nach den Originalplänen rekonstruiert und um zwei weitere Giebel sowie ein Vordach darunter ergänzt. Zusammengefasst wird diese Formvielfalt durch einen einheitlichen braunen Anstrich. Vorher nie da gewesene, quadratisch gegliederte Glasscheiben werden zum Hauptmotiv des Gebäudes, finden sich auf drei Fassaden und ziehen sich bis in den Innenraum hinein.
Die verschiedenen Zeitschichten der Baumaßnahmen lassen sich heute nicht mehr klar ablesen. Die Architekt*innen Anne Femmer und Florian Summa sind der Überzeugung, diese Art von Transparenz brauche es auch gar nicht. Für sie ist das Wohnhaus zeitlos: Es existiert weder Alt noch Neu, kein Original und keine Rekonstruktion. Bei diesem Umbau stand die Verschmelzung im Fokus – mit dem Ziel, das Wohnhaus genauso ansehnlich und architektonisch wertvoll zu gestalten, „wie es schon immer hätte sein können“.

Historisches Erbe bewahren
Noch weiter zurück in der Vergangenheit liegt der Bau des unter Denkmalschutz stehenden Vöhlinschlosses im Unterallgäu. Im Jahr 1492 wurde der dreigeschossige Bau errichtet, der Dachboden im 18. Jahrhundert zusätzlich aktiviert. Als das in die Jahre gekommene Bauwerk wieder instandgesetzt und für Wohnzwecke umgenutzt werden sollte, legten die Architekt*innen – und zugleich Bauherr*innen – Anna Kern und Sebastian Heinzelmann von Kern Architekten das Augenmerk auf den weitestmöglichen Erhalt historischer Bausubstanz.
Fehlstellen – beispielweise in Holzbalken – wurden punktuell repariert und nur dort ersetzt, wo es notwendig war. Dabei griffen die Planenden ausschließlich auf natürliche Rohstoffe aus der Umgebung sowie einfache Bauweisen und traditionelle Techniken zurück.
Ähnlich wie in Kopenhagen war der Bauprozess experimentell und praxisorientiert: Eine denkmalgerechte Voreinschätzung gab den Beteiligten einen Eindruck der Bausubstanz und ihrer Historie. Ausprobiert, repariert, restauriert und thermisch aufgewertet wurde jedoch vor Ort und in enger Zusammenarbeit mit lokalen Handwerksbetrieben. So wurden etwa historische Fenster aufbereitet und durch innenliegende Isolierglasfenster energetisch ertüchtigt. Auch neue additive Elemente wie Küchen- und Sanitäreinbauten kamen zum Einsatz und bringen Vergangenheit und Gegenwart noch stärker in den Dialog.
Die verschiedenen Ansätze demonstrieren: Reparieren ist keine defensive Geste, sondern eine Haltung und aktive Entwurfskultur. Statt also immer wieder „Tabula rasa“ zu fordern, plädiert Reparatur für Schichten und Übergänge. Sie zeigt, dass nicht nur Neues gut und ästhetisch sein kann. Und sie verbindet Ökologie und Baukultur auf eine Weise, die nicht nach Verzicht aussieht, sondern nach Gewinn: an kulturellem Sinn, architektonischem Charakter und an Verantwortung gegenüber unserer Umwelt.
