Muss man diese Monster wirklich retten?
Im Netz rotten sich die Liebhaber*innen des Brutalismus zusammen. Unter dem Hashtag #sosbrutalism versuchen sie, die dem Abriss oder Verfall preisgegebenen Gebäude der umstrittenen Stilrichtung zu retten – ein aktiver Beitrag zur Erhaltung von Betonbauten.
Was mit einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt im Jahr 2017 begann, wurde zum weltweiten Netzphänomen. „SOS Brutalism“ ist inzwischen weit mehr als eine Kampagne: Als Sprachrohr einer globalen Bewegung setzen die Initiatoren sich für den Erhalt einer Architektur ein, die viele lieber heute als morgen verschwinden sähen.
Weltweite Statements
Brutalismus polarisiert. Kaum jemand bleibt angesichts der wuchtigen Sichtbetonbauten gleichgültig. Zwischen Hässlichkeit und Heldentum, Betonklotz und Baudenkmal schwanken die Urteile – und machen damit, was viele andere Architekturstile nicht vermögen: Emotionen wecken. Wer sich durch die Online-Datenbank sosbrutalism.org klickt, stößt auf allerlei in Beton gegossene Skulpturen. Fast 2.300 Gebäude weltweit sind hier gelistet, eingeteilt wie bedrohte Arten in sechs Kategorien von „gerettet“ bis „zerstört“. Es sind Bauwerke aus Japan, Chile, Frankreich, dem Iran, Brasilien, Deutschland oder Ghana – Brutalismus kennt keine kulturellen oder ideologischen Grenzen. Eine Architektur des globalen Aufbruchs in eine neue Zeit – oft sozial gedacht, funktional geplant, radikal in der Form.
Erhaltung einer bedrohten Art
Viele dieser Bauten sind akut bedroht. Der Abriss erfolgt häufig still und leise. „SOS Brutalism“ will das verhindern, indem die Kampagne Aufmerksamkeit schafft. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das DAM selbst, das regelmäßig Ausstellungen zum Thema kuratiert. 2017 etwa wurde nicht nur im DAM, sondern auch gleich im Architekturzentrum Wien (AZW) die Ausstellung „#sosbrutalism – Rettet die Betonmonster!“ gezeigt. Auch in den sozialen Medien wird diskutiert, verteidigt, aufgeklärt. Der Instagram-Account @sosbrutalism ist dabei zentrale Anlaufstelle und weltweit zugänglicher Online-Katalog bedrohter, geretteter und zerstörter brutalistischer Bauten.
Gebäude, die überfordern
Doch was hilft es, wenn Architekt*innen sich begeistert zeigen, während die breite Bevölkerung in erster Linie nur Kopfschütteln für den Erhalt der Gebäude übrig hat? Diese Diskrepanz bleibt eine der größten Herausforderungen der Bewegung. Der Brutalismus konfrontiert, überfordert, ist bewusst unversöhnlich. Die provokante Ästhetik ist Teil seiner DNA. Wer sie verstehen will, muss sich mit den historischen, sozialen und städtebaulichen Bedingungen auseinandersetzen, unter denen diese Gebäude entstanden sind – oft als ehrliche Versuche, Funktionalität, Erneuerung und Massentauglichkeit zu verbinden.
Zerstörter Charakter, geretteter Bau
Mancher Bau verliert mit seiner Garantie zum Fortbestand aber auch seinen Charakter. Ein Beispiel: die ehemalige Oberpostdirektion in Nürnberg, ein mächtiger, brutalistischer Baukörper aus Sichtbeton, heute neu gedacht als Evangelischer Campus Nürnberg in aufgelöster Gliederung, gestaltet mit Holzelementen und bis zur Unkenntlichkeit weiterentwickelt. Massenkompatibel, doch auch Ausdruck einer gespaltenen architektonischen Persönlichkeit. Die Transformation zeigt, dass manchmal der einzige Weg zur Erhaltung die Weiterentwicklung ist, was Puristen vielleicht nicht überzeugt, mit Blick auf die „graue Energie“ jedoch seine Berechtigung hat.
Wird der Brutalismus zur Popkultur?
Gleichzeitig bleibt der Blick auf das „große Ganze“ wichtig. Die „1.000 abschreckenden Beispiele“, wie Kritiker sie nennen, dürfen nicht übersehen werden – genauso wenig wie die 1.000 gelungenen Transformationen. Der Brutalismus in all seiner Vielfalt ist ein Erbe der Nachkriegszeit – ein Ausdruck von Pragmatismus, Hoffnung, aber auch von Wagemut. Selbst Hollywood feiert die Kraft dieser Architektur mit dem Film „The Brutalist“. Drei Oscars später ist klar: Das Thema hat längst seinen Platz in der Popkultur gefunden.
Die Frage bleibt: Muss man diese Monster retten? Vielleicht nicht alle – aber viele sollten erhalten werden. Und sicher nicht nur für die Architekturbubble. Sondern für alle, die verstehen wollen, wie Städte denken, fühlen, sich erinnern, einst Fortschritt gewagt haben. Und wie Architektur zum Spiegel der Gesellschaft wird – nicht immer schön, aber wahrhaftig. Und genau deshalb wichtig, dass der Brutalismus auch weiterhin besteht.