Das Erbe des Brutalismus
Den einen jagen sie einen Schauer über den Rücken, für die anderen sind seine Bauwerke faszinierend: Bis heute polarisiert der Brutalismus. Die Debatten um den baukulturellen Wert seines Erbes sind entsprechend kontrovers – vor allem, wenn es um den Erhalt und Denkmalschutz geht.
Die Namensgebung des Brutalismus beginnt in Großbritannien. Hier prägte eine Gruppe junger Architekt*innen und Architekturkritiker*innen den Ausdruck „New Brutalism“ – abgeleitet von Le Corbusiers „béton brut“, was so viel heißt wie „roher Beton“ oder „Sichtbeton“. Man wollte sich damit von der ökonomisch und materiell, aber auch sozial schwierigen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg distanzieren. Im Jahr 1955 definierte der Architekturkritiker Reyner Banham drei wesentliche Merkmale des Brutalismus: die Einprägsamkeit als Bild, die klare Darstellung der Struktur und die Wertschätzung der Materialien an sich.
Die Architektur des Brutalismus zeigt sich unverhüllt, wie sie wirklich ist: mit sichtbarer Tragstruktur, Leitungen und Rohren, unverkleideten Bauteilen und – neben Stein, Metall und Ziegeln – überwiegend in Beton. Die Baustoffe selbst werden zum rhetorischen Stilmittel, indem sie ihre Bestandteile und Machart offenlegen.
Ein Fels für Neviges
Im Laufe der 1960er-Jahre erreichte der Brutalismus alle Kontinente und Nutzungen. 1968 stellte Gottfried Böhm den Mariendom in Velbert-Neviges fertig. Die Wallfahrtskirche, die ausschließlich aus Stahlbeton besteht, erhebt sich mit ihrem 34 Meter hohen Faltdach wie ein Fels über dem Ort im Bergischen Land. Ebenso zerklüftet wie das Dach sind auch die Außenwände, die auf einem polygonalen Grundriss basieren.
Der Nüchternheit des Sichtbetons begegnete Böhm mit eigens entworfenen Flächenfenstern, die den sakralen Innenraum bei Lichteinfall in bunte Farben tauchen. Vielen erscheint die Pilgerkirche bis heute maßstabslos und fremd im städtebaulichen Kontext, die Betonoberflächen zu kalt und abweisend. Hinzu kommt die Witterung, die im Laufe der Zeit Spuren hinterlassen hat. Doch sind es auch genau diese Eigenschaften, die andere so faszinieren.
Nicht umsonst wurde der Mariendom im Jahr 1995 unter Denkmalschutz gestellt und zählt – als Hauptwerk Gottfried Böhms – zu den bedeutendsten Kirchenbauten des 20. Jahrhunderts und den Ikonen des brutalistischer Architektur.
Von der Experimentierstätte zum Experiment
Sein Ende fand der Brutalismus in den 1980er-Jahren. Ein Jahrzehnt später wurde sein Erbe bereits als „ästhetischer Vandalismus“ betrachtet und dem Verfall überlassen. Auch die Wiederentdeckung brutalistischer Architektur im 21. Jahrhundert konnte einige Gebäude nicht vor dem Abriss bewahren, viele sind bis heute bedroht. Bis 2021 gehörte dazu auch der Mäusebunker in Berlin, ein Tierversuchslabor, gebaut von Magdalena und Gerd Hänska im Auftrag der Freien Universität. Der 143 Meter lange und 38 Meter breite Pyramidenstumpf aus dem Jahr 1981 erinnert mit seinen Belüftungsrohren an ein Kriegsschiff oder eine Verteidigungsanlage. Das Innere wird von einem kräftigen Farbkonzept geprägt. In Dunkelblau, Gelb, Rot, Grün oder Blaugrün kennzeichnet es die Nutzungsbereiche für Forschungs-, Technik- und Tierpflegepersonal.
Der geplante Abriss konnte durch eine Petition verhindert werden, die Meinung der breiten Öffentlichkeit war allerdings gespalten. Gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen und der Charité rief das Landesdenkmalamt daraufhin das „Modellverfahren Mäusebunker“ ins Leben.
Ziel war der Austausch zwischen den verschiedenen Akteur*innen aus Verwaltung, Politik, Planung und Zivilgesellschaft über die nachhaltige und gemeinwohlorientierte Nachnutzung. Das Gebäude, in dem jahrelang Experimente stattgefunden hatten, wurde jetzt selbst zum Experiment. In Werkstatt- und weiteren Veranstaltungsformaten erarbeitete man die Potenziale des Bestands und darauf aufbauend verschiedene Nutzungsoptionen sowie -szenarien. Die Empfehlung: das Grundstück zunächst für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um ihm Sichtbarkeit zu verschaffen. Unter anderem wird auch die Beauftragung einer Machbarkeitsstudie empfohlen, um die Parameter für planerische Maßnahmen zu klären.
Bis der Mäusebunker in Betrieb genommen wird, dauert es wohl noch etwas. Ein großer Erfolg war bereits die Unterschutzstellung im Rahmen des Denkmalschutzes im Mai 2023. Zudem ist auch das Modellverfahren ein beispielhafter Prozess für die baukulturelle, ökologische und ökonomische Bewertung von umstrittenen Bestandsgebäuden.
Mehr als eine Wohnmaschine
Der Name des Großwohnkomplexes im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld klingt wie ein Horrorfilm: Hannibal II. Von 1972 bis 1975 nach den Plänen von Günther Odenwaeller und Heinz Spieß errichtet, besteht er aus acht aneinandergereihten Hochhäusern mit sechs bis siebzehn Geschossen, die sich an der Westseite terrassenartig nach oben verjüngen.
Mit seinen 412 Wohneinheiten weckt der Bau Assoziationen zu Le Corbusiers Unité d’habitation, in der öffentlichen Wahrnehmung auch gerne abfällig als „Wohnmaschine“ oder „Betonregal“ bezeichnet. Schlagzeilen dieser Art machte auch Hannibal II. Hintergrund war jedoch nicht nur die äußere Erscheinung, sondern vor allem die rund 20-jährige Geschichte von Eigentümerwechseln über Verfall bis zur Stilllegung aufgrund von Brandschutzmängeln im Jahr 2017. Dabei eröffnet ein Blick hinter die Fassade enorme Qualitäten, angefangen beim breiten Mix an Wohnungen zwischen 18 und 108 m2. Ein Großteil wird sowohl von Osten als auch von Westen belichtet und besitzt großzügige Balkone.
Was ihnen darüber hinaus eine besondere Qualität verleiht, ist ihre zum Teil vertikale Gliederung: Die Nutzungen innerhalb einer Wohnung sind auf verschiedenen Ebenen angeordnet, die um eine halbe Geschosshöhe zueinander versetzt und durch Treppen miteinander verbunden sind. Diese Split-Level erzeugen den Eindruck, als befinde man sich im eigenen Haus – die Großstruktur ist schnell vergessen.
Im Jahr 2021 kam schließlich die „Rettung“: Kuhnhaus-Betting Architekten aus Essen wurden von der neuen Eigentümerin mit der Kernsanierung inklusive energetischer Optimierung sowie der gestalterischen Aufwertung beauftragt. Die dunkle Vergangenheit hat mit der Fertigstellung hoffentlich ein Ende – immerhin wird mit der Reaktivierung bezahlbarer Wohnraum für über 400 Menschen geschaffen. Der neue Name des Wohnkomplexes jedenfalls ist alles andere als düster: Dortmund Green Living. Damit ist das Gebäude ein gelungenes Beispiel für die Zukunftsfähigkeit brutalistischer Architektur im Kontext von Sanierung und Denkmalschutz.