Leben_vor_der_Stadt_Celine_Mueller_Simon_Sachse_HFT_Stuttgart_Saint-Gobain-Weber_do-up_Architekten
DATA & FACTS
KÖPFE-12.11.2024
Zu den Personen
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Prof. Dr.-Ing. Christina Simon-Philipp ist Architektin, Stadtplanerin und Professorin an der Hochschule für Technik in Stuttgart, wo sie das Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung verantwortet. Gemeinsam mit Geografin und Politikwissenschaftlerin Dr. Anja Reichert-Schick, die bei der Wüstenrot Stiftung die Themengebiete Zukunftsfragen und Bildung verantwortet, leitet sie das transdisziplinäre Lehrforschungsprojekt „Leben vor der Stadt“.

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Was Menschen sich wünschen

Sozialer Wandel in Vorstadtgebieten

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Christina Simon-Philipp und Dr. Anja Reichert-Schick zum (zukünftigen) Leben vor der Stadt.

Was genau erforschen Sie mit dem Projekt „Leben vor der Stadt“, und wer ist hieran beteiligt?

Christina Simon-Philipp (CSP): Wir beschäftigen uns mit den bestehenden Einfamilienhausgebieten der 50er, 60er und 70er Jahre und untersuchen, wie sie weiterentwickelt, neu gedacht und gelebt werden können. In vielen Beständen leben nur noch ein bis zwei Personen, wodurch 60 Prozent sogenannte innere Leerstände entstehen.

Anja Reichert-Schick (ARS): Das Lehrforschungsprojekt baut auf mehreren Säulen auf: der Wüstenrot Stiftung, der Hochschule für Technik in Stuttgart und der Bundesstiftung Baukultur als jüngster Kooperationspartnerin. Mit einem Expertennetzwerk führen wir Workshops durch und arbeiten auch mit Kommunen der Region Stuttgart zusammen. Mit diesen verschiedenen Akteur*innen wollen wir einen Brückenschlag von der Lebensrealität der Bewohner*innen zur Wissenschaft und der architektonischen Praxis schaffen.

Warum bleibt denn der Traum vom Einfamilienhaus trotz Klimawandel bestehen?

ARS: Beim Einfamilienhaus geht es immer wieder um Freiheit, Glück und Selbstverwirklichung. Es geht um den perfekten Ort, an dem die Kinder großwerden können, darum, etwas Eigenes zu haben, und natürlich auch um finanzielle Aspekte wie Altersvorsorge und Sicherheit. Und dann ist es auch ein Idealbild, das man schon in Kinderbüchern findet, mit dem wir aufwachsen.

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Entwurf/Bild: Celine Müller, Simon Sachse, HFT Stuttgart

Gemeinschaft und der öffentliche Freiraum sind ja auch ganz wesentliche Aspekte, mit denen Sie sich auseinandersetzen.

ARS: Genau. Gerade in unserer heutigen älter werdenden Gesellschaft ist die Gemeinschaft immer wichtiger. Deshalb braucht es dringend Orte der Begegnung.

CSP: Allerdings sprechen wir ja von den Bestandsgebieten der 50er bis 70er Jahre, die damals meist als reine Wohngebiete ausgewiesen wurden. Der öffentliche Raum besteht da aus Straße und Gehweg. Begegnungsorte gibt es nicht, geschweige denn eine soziale Infrastruktur.

Mit welchen stadtplanerischen Mitteln könnte man denn diese soziale Infrastruktur herstellen?

ARS: Es bedarf zunächst einer stärkeren Nutzungsmischung. Vor allem Gemeinschaftseinrichtungen wie Nachbarschaftscafés oder lokale Treffpunkte sind wichtig, damit sich Menschen unterschiedlichen Alters austauschen können. Dafür bietet sich zum Beispiel die Erdgeschosszone der Gebäude an, während im Obergeschoss gewohnt wird.

CSP: Darüber hinaus sind auch die Schaffung und Aufwertung von Grün- und Freiflächen enorm wichtig. Sie fördern spontane Begegnungen und Interaktionen innerhalb der Nachbarschaft.

Und wie sieht das Ganze auf Gebäudeebene aus? Welche architektonischen Weiterentwicklungsmöglichkeiten gibt es hier?

CSP: Es gibt auf jeden Fall ganz viele Möglichkeiten des Weiterbauens, Umbauens, des Teilens und der Mischung. Mit Letzterem meinen wir die Ausdifferenzierung der Wohnformen für unterschiedliche Zielgruppen. Gut wäre es, wenn in einem Quartier Menschen unterschiedlicher Lebensphasen wohnen – Familien, Paare, junge und ältere Alleinstehende. Beim Umbau gibt es viele Möglichkeiten, die immer vom Haustypus abhängig sind.

Nun haben Sie bereits eine ganze Menge Lösungen genannt. Wie kommunizieren Sie diese an die Bewohner*innen, sodass sie (zumindest als Denkanstoß) angenommen werden?

ARS: Wie gesagt betrachten wir das Einfamilienhaus nicht nur aus architektonischer Sicht. Deshalb haben wir die Bewohner*innen von Beginn an einbezogen und sie mit den Studierenden der HFT Stuttgart zusammengebracht. Das Haus wurde zum Untersuchungsobjekt: Sie haben den Menschen beim Wohnen über die Schulter geschaut und sie befragt. Schon durch diesen ständigen Dialog wurden Denkprozesse in Gang gesetzt.

CSP: Die Entwürfe wurden in einer Turnhalle präsentiert, und diese niedrigschwellige Art hat die Menschen wirklich begeistert: Ihnen wurden Ideen vorgelegt, an denen sie beteiligt waren, die ihre Wohnwünsche berücksichtigen und auf verständliche, unverbindliche Weise zeigen, wie das zukünftige Leben in einem Einfamilienhaus(-gebiet) aussehen kann.