Jochen Siegemund leitet an der Technischen Hochschule Köln den Master- und Forschungsschwerpunkt Corporate Architecture. Neben zahlreichen Tätigkeiten in Fachgutachten, -gremien und -verbänden arbeitet er in der Praxis als Architekt und Stadtplaner und führt das Büro „Siegemund Architekten & Stadtplaner” in Bonn.
Prof. Jochen Siegemund über Corporate Architecture
Form follows content: Bei Corporate Architecture gilt es, inhaltliche Kriterien in die Materialisierung und die Raumbildung zu übertragen. Prof. Jochen Siegemund über die gegenwärtige sowie zukünftige Bedeutung „gebauter Identität“
Herr Prof. Siegemund, Sie lehren an der TH Köln den Masterschwerpunkt „Corporate Architecture“. Können Sie das Profil kurz umreißen?
Ich habe seit 1995 eine Professur für Entwerfen, Objekt und Raum in Köln und darauf aufbauend 2007 die Mastervertiefung an der Technischen Hochschule gegründet und etabliert. Im Fokus meiner Lehre stehen der öffentliche und der repräsentative Bau für Bildung, Kultur und Unternehmen sowie architektonische Räume für Inhalte und Erlebnisse. Wir stellen uns der Frage, wie man Identität bauen kann und wie wir Inhalte in Raum übersetzen können, der beispielsweise die Haltung eines Unternehmens vermittelt. Denn es geht ja nicht nur darum, ein funktionales Programm abzuarbeiten, sondern den Raum auch als einen Bedeutungsträger zu verstehen, der den Menschen prägt.
„Inhalte in Raum übersetzen“ – taucht in Ihrem Gebiet deshalb immer wieder der Leitsatz „form follows content“ auf?
Ja, wir haben ganz bewusst Mies van der Rohes „form follows function“ zu „form follows content“ abgewandelt. Der Inhalt spielt für uns eine große Rolle. Als ArchitektInnen müssen wir in der Lage sein, inhaltliche Kriterien in die Materialisierung und die Raumbildung zu übertragen. Es entspricht außerdem unserer Haltung, dass wir über eine umfangreiche Analyse ein Verständnis für unseren Bauherrn bekommen und daraus eine Programmatik entwickeln.
Gibt es Ihrer Erfahrung nach Unterschiede zwischen Großkonzernen und mittelständischen Unternehmen, was die Relevanz der eigenen Corporate Architecture betrifft?
Große Unternehmen haben ihre eigenen ArchitektInnen, die nur darauf schauen, dass ihre Headquarter weltweit entsprechend ihrer Corporate-Design-Richtlinien gestaltet werden. Das ist unabdingbar, wenn sie sich in der globalen Wirtschaft wiedererkennbar machen möchten. Mittelständler dagegen haben den Wettbewerb in diesem Umfang nicht und können sich aus Budgetgründen meist auch nicht so beraten lassen, wie es die ganz Großen machen. Dennoch sehe ich auch hier ein enormes Potenzial: Innovation, Werteverständnis, Regionalität, Firmenhistorie und damit einhergehend Traditionen sowie der Umgang mit den eigenen MitarbeiterInnen sind Themen, die sich über die Architektur wunderbar und nachhaltig transportieren lassen.
Es ist derzeit vielfach zu hören, dass das Home-Office langfristig die Bedeutung des Präsenz-Arbeitsplatzes und damit auch des Firmengebäudes verändern wird. Sehen Sie diese Tendenz?
Ja, aber es ist dabei wichtig zu sagen, dass die Bedeutung deshalb nicht geringer wird. Bei einem Arbeitsplatz geht es ganz stark um Beziehungen und Vertrauen. Das müssen Unternehmen auch in Zukunft aufrechterhalten. Vielmehr ist es eine Frage der Verortung, also wie wir Wohnen und Arbeiten zukünftig miteinander kombinieren können. Ein Unternehmen sollte seine Flächen nicht reduzieren, sondern sich fragen, wie es sie innerhalb einer Stadt neu organisieren kann, ohne dabei den Wert des Arbeitsplatzes zu verringern. Es ist demnach eine ganzheitliche, städtebauliche Betrachtung notwendig, anstatt nur auf ein einzelnes Firmengebäude zu blicken.
Inwiefern hat die voranschreitende Digitalisierung Auswirkungen auf die Relevanz von „gebauter Identität“?
Insbesondere in der jetzigen Situation (Herbst 2021, Anm. der Redaktion) wird uns bewusst, wie wichtig analoge Begegnungen, Orte und Räume sind. Aber natürlich wird es mit der voranschreitenden Digitalisierung immer mehr virtuelle Angebote geben. In diesem Zusammenhang müssen wir Analog und Digital neu bewerten und gewichten. Dennoch lässt sich ganz klar sagen – und das haben wir spätes-tens durch Corona noch einmal nachdrücklich gemerkt –, dass digitale Angebote keinesfalls die analoge Welt ersetzen können, in der sich die Menschen physisch begegnen. Diese Begegnungen und den wissenschaftlichen Austausch wünsche ich uns auch mit den Studierenden in der Mastervertiefung Corporate Architecture!