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EXKURS-05.04.2024
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Abriss is over

Zu wenig, zu langsam: Sanierung der Gebäudehülle

Nicht nur die heftig diskutierte Novelle des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) und steigende Baukosten haben bei Hauseigentümern zu Verunsicherung geführt. Auch die im Vergleich zur Heizungstechnik niedrige Förderung der Gebäudehülle sowie das langwierige, komplizierte Fördersystem wirken eher bremsend, so dass trotz des enormen Bedarfs an energetischen Gebäudesanierungen die Sanierungsrate im letzten Jahr rückläufig war.

Der Absatz von Wärmedämm-Verbundsystemen (WDVS) sank laut des Verbandes für Dämmsysteme, Putz und Mörtel (VDPM) im Jahr 2023 deutlich – im ersten Quartal um 17,2 Prozent, im zweiten um 13,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Angesichts dieser Entwicklung ist zu befürchten, dass die gesteckten Ziele der Klimaneutralität im Gebäudebestand nicht erreicht werden. Dabei herrscht in der Architekt*innenschaft Konsens über die Notwendigkeit von Gebäudesanierungen und das Umdenken im Umgang mit Abrissen. Architektin Annabelle von Reutern brachte es im Rahmen der Veranstaltung Architects, not Architecture in Hamburg mit ihrem Plädoyer kurz und knapp auf den Punkt: „Was Architekten nicht mehr machen dürfen? Abreißen! Abriss ist over.“

Plädoyer für die Sanierung

Das heißt auch: Ohne die Sanierung von Bestandsgebäuden ist die Bauwende nicht machbar. Das Zusammenspiel von Effizienzsteigerung und einer Dekarbonisierung des gesamten Bausektors ist zentral für die Erreichung der Klimaschutzziele. Zudem sorgt der Bestandserhalt dafür, dass die sogenannte graue Energie, die beim Bau des Gebäudes für Rohstoffe, Herstellung, Transport und Lagerung aufgewendet wurde, nicht verloren geht. Durch eine neue Umbaukultur ließe sich auf diese Weise der Ressourcenverbrauch des Bausektors drastisch reduzieren. Und: Je weniger neu gebaut wird, desto weniger Flächen müssen versiegelt werden.

Alexander Pier, pier7 architekten

„Wir vertreten die Auffassung, dass der Bestand grundsätzlich dahingehend geprüft werden sollte, ob er bewahrt und überarbeitet oder erweitert werden kann. Aus unserer Erfahrung ist die Bausubstanz bei bestehenden Massivbauten immer recht robust. Fenster, die technische Infrastruktur und andere Elemente müssen natürlich ausgetauscht und erneuert werden. Aber dann bietet der Erhalt von Bestandsbauten die Möglichkeit, graue Energie zu erhalten und kostengünstig wertigen Wohnraum anbieten zu können.“

Potenzialanalyse: Sanierungsbedarf in Zahlen

Das Potenzial für die energetische Gebäudesanierung ist enorm und macht sie zu einer der größten Aufgaben des 21. Jahrhunderts. In den 27 Mitgliedstaaten der EU müssen gegenwärtig mehr als 97 Prozent der inventarisierten Gebäude modernisiert werden, um Energieeffizienzkriterien zu erfüllen. Auf diese Gebäude entfallen etwa 40 Prozent des Endenergieverbrauchs der EU, 36 Prozent der CO₂-Emissionen und 55 Prozent des Stromverbrauchs. Dagegen gelten nur 2,7 Prozent der Gebäude in der EU als äußerst effizient (Kategorie A).

Doch wie können Planende Immobilienbesitzer*innen von einer Sanierung überzeugen? Häufig gibt es Unsicherheiten hinsichtlich der Priorisierung von Maßnahmen. Um diesen zu begegnen, sollten Architekt*innen und Fachplaner*innen die Möglichkeiten einer schrittweisen Sanierung betonen und die Erstellung eines individuellen Sanierungsfahrplans (iSFP) empfehlen. Dieser wird vom Bund mit bis zu 80 Prozent gefördert und eröffnet gemäß der Anfang 2024 in Kraft getretenen Förderrichtlinie „Bundesförderung für effiziente Gebäude-Einzelmaßnahmen“ (BEG EM) einen zusätzlichen Förderbonus von fünf Prozent auf die umgesetzten Maßnahmen.

Gebäudehülle im Fokus energetischer Sanierungen

Doch womit starten? Vor der Gewichtung der Sanierungsmaßnahmen lohnt ein Blick auf die Energieverluste. In einem ungedämmten Gebäude können demnach 20 bis 25 Prozent der Energie durch die Wände, 15 bis 20 Prozent durch das Dach und 20 bis 25 Prozent durch die Fenster entweichen. Je nach dem Alter des Gebäudes fallen die Energieverluste sogar noch deutlich höher aus.

Beim Kosten-Nutzen-Vergleich schneidet der Austausch der Fenster in der Regel am besten ab. Hier kann man 20 bis 25 Prozent Energieeinsparung erzielen und die Kosten sind in der Regel günstiger als beim Aufbringen eines Wärmedämm-Verbundsystems. Allerdings macht es häufig Sinn, im Zuge des Fensteraustauschs auch die Fassade zu dämmen. Bei einer zweistufigen Sanierung würden also beispielsweise einmal Maßnahmen an der Fassade inklusive Fenster und in einer zweiten Phase Maßnahmen am Dach Sinn machen. Diese Richtwerte ersetzen allerdings die Einzelfallbetrachtung nicht, da die individuelle Einsparung von vielen Faktoren abhängt, unter anderem Größe, Anzahl und energetischem Standard der bisherigen Fenster, von Wandaufbau und –dicke, Ausrichtung und Kubatur des Gebäudes.
 
Diese Zahlen zeigen: Die Gebäudehülle hat enormes Energieeinsparpotenzial. Natürlich führt auch der Einbau einer moderneren Heizanlage langfristig zu Energieeinsparungen. Doch sollten zunächst alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Wärmeverluste von Fassade, Dach und Fenstern – und damit auch den Heizaufwand – zu reduzieren. Ist die Gebäudehülle optimiert, kommt man beispielsweise unter Umständen mit einer Wärmepumpe aus. In einem ungedämmten Altbau hingegen kann eine Wärmepumpe allein in aller Regel den Wärmebedarf der Bewohnerinnen nicht decken, beziehungsweise würde zu einem unsinnig hohen Stromverbrauch führen.
 
Für eine thermisch luftdichte Gebäudehülle sollten folgende Bauteile lückenlos gedämmt sein:
– Außenwände
– Dach bzw. obere Geschossdecke
– Kellerdecke bzw. Bodenplatte
Zusätzlich ist der Einbau von Fenstern und Türen mit entsprechenden Dämmeigenschaften wichtig.

Frank Schönert Architekturbüro Hütten & Paläste in Berlin

„Der Bestand war lange Zeit ein Nischenthema in der Architektur. Natürlich gab es viele gute Arbeiten auf diesem Gebiet, das war allerdings nicht der Regelfall. Inzwischen hat diese Aufgabe andere Dimensionen erhalten. Wir wissen, dass wir fertig gebaut haben, denn mit dem aktuellen Bestandsvolumen könnten wir allen Bedarfen gerecht werden. Hinzu kommt, dass die Baubranche einen großen Einfluss auf die Klimakrise und Ressourcenknappheit hat. Deshalb dürfen wir nicht einfach blind abreißen und neu bauen, sondern müssen den Bestand weiterbauen, umbauen und transformieren.“